Dienstag, 21. November 2023

 

Polizeifreier Raum für eine Versammlung


Was ein F a n s c h a l r a u b alles auszulösen vermag ...


eine Anregung zum aktuellen Konflikt zwischen Stuttgarter Polizei und VfB-Fans


Bis vor Kurzem hat es, wie ich der Cannstatter Zeitung vom 16.11. entnehme, zur Vorbereitung auf Heimspiele des VfB die sogenannte S t a d i o n a l l i a n z gegeben, in der Polizei, Ordnungsbehörde, Clubvertreter und Hilfsorganisationen vor Heimspielen des VfB zusammengearbeitet haben. Das Polizeipräsidium hat dem Bericht nach jetzt jedoch die Reißleine gezogen und die Allianz „ausgesetzt“. Der Anlass: Traditionell trifft sich in den Stunden vor Heimspielen im Bereich des Vorplatzes beim Carl-Benz-Center die „aktive Fanszene“ des VfB. Ich habe einst auch schon dazu gehört. Man tauscht sich aus uns trinkt noch etwas, bevor es ins Stadion geht. Vor den letzten beiden Heimspielen hat, wie ich nun lese, das Stuttgarter Polizeipräsidium dort ein Polizeikommando postiert. Die dort versammelten Fans fühlen sich offensichtlich durch die für sie nicht verständliche Maßnahme diskriminiert und provoziert, beschimpfen die Polizisten und wollen, dass die Polizei sich von dort wieder zurückzieht.

Das Polizeipräsidium zeigt jedoch keinerlei Verständnis dafür. Polizeipräsident Markus Eisenbraun sieht in der Forderung „Macht- und Territorialansprüche“. Wenn die bloße Anwesenheit der Polizei für die Fans schon ein Problem sei, dann habe er damit Probleme. Für ihn ist die Forderung paradox: Die Polizei will die Fans vor sich selbst schützen, und die wollen ihr zum Dank dafür geradezu größenwahnsinnig einen „Platzverweis“ erteilen.

So heißt es zur Rechtfertigung der Maßnahme, es sei dort immer wieder zu kleineren Straftaten wie „Fanschalraub“ oder auch Körperverletzungen gekommen. In dem Bericht heißt es allerdings auch weiter, es habe vor dem Spiel gegen Borussia Dortmund elf Platzverweise für Fans gegeben, die sich aus Sicht der Polizei ihr gegenüber aggressiv verhalten tten. Ein mitgeführter Bereitschaftsrichter habe dabei in einem Fall Polizeigewahrsam angeordnet. Das heißt, zu den Delikten von Fans ist es erst auf Grund der von ihnen als provozierende und einschüchternde Machtdemonstration empfundenen Polizeipräsenz gekommen. Wenn es so war, dann beißt sich da auch eine Katze in den eigenen Schwanz.

Inzwischen haben sich laut Zeitungsbericht jedoch, für das Polizeipräsidium wohl unerwartet, auch die namhaften Fanclubs und der Fanbeauftragte hinter die scheinbar so absurde Forderung nach mehr Zurückhaltung der Stuttgarter Polizei gestellt und damit bei ihr eine Reizschwelle überschritten, denn das Polizeipräsidium setzt als Antwort darauf ausgerechnet die Zusammenarbeit mit der „Stadioninitiative“ aus, in der auch Vertreter der Fanclubs mitarbeiten, was nach einem Akt der Verzweiflung aussieht. So viel zur Lage, wie ich sie als Leser auf Grund des wertvollen Zeitungsberichts Christine Bilgers - hoffentlich richtig - verstehe.

Ich denke und hoffe, vielleicht habe ich einen brauchbaren Vorschlag, wie man an die Lösung des Konflikts herangehen könnte, auch wenn er als absurd erscheinen mag. Die Vorstellung der Fans von einem „polizeifreien“ Raum für ihre traditionellen Treffen vor dem Clubhaus, also innerhalb des öffentlichen Raumes, ist nicht so absurd, wie sie, insbesondere der Polizei, auf den ersten Blick erscheinen mag, und sie ist auch nicht neu. Sie wurde bereits vor 40 Jahren von niemand geringerem als dem Bundesverfassungsgericht entwickelt, und zwar in dem berühmten Brokdorf-Urteil vom 14.05.1985 zum Grundrecht der Versammlungsfreiheit. Um überflüssige Konflikte zwischen Versammlungsteilnehmern und Ordnungskräften möglichst zu vermeiden, empfahl das Bundesverfassungsgericht folgende Spielregel: „Dazu gehört neben der rechtzeitigen Klarstellung der Rechtslage, daß beiderseits Provokationen und Aggressionsanreize unterbleiben, daß die Veranstalter auf die Teilnehmer mit dem Ziel friedlichen Verhaltens und der Isolierung von Gewalttätern einwirken, daß sich die Staatsmacht - gegebenenfalls unter Bildung polizeifreier Räume - besonnen zurückhält und übermäßige Reaktionen vermeidet … (a.a.O. Rn. 83)“. Die Fangruppen verlangen also etwas für sich, vermutlich intuitiv, was ihnen im Grunde tatsächlich auch zusteht, ohne dass ihnen und der Polizei klar ist, warum das sogar nach Recht und Gesetz so ist.

Die Kontrahenten müssten sich als erstes einmal darüber klar werden und verständigen, notfalls mit Inanspruchnahme des Stuttgarter Verwaltungsgerichts, ob oder dass es sich bei den traditionellen Treffen der Fans vor dem VfB-Clubhaus nicht um eine bloße Ansammlung von Menschen handelt, die nichts miteinander zu tun haben, sondern – wie die Montagsdemos, um eine Versammlung im Sinne des Versammlungsrechts. Bei den Treffen der Fans vor dem VfB-Clubhaus handelt es sich m. E. nicht um eine zufällige A n - sammlung von Menschen, sondern um eine V e r- sammlung im Sinne des Artikels 8 des Grundgesetzes. Eine Versammlung unterscheidet sich juristisch gesehen von einer bloß zufälligen Ansammlung von Menschen dadurch, dass eine Personenmehrheit durch ein friedliches Anliegen miteinander verbunden ist.

Diese Verbundenheit ist konstitutiv und ausschlaggebend und nicht deren Deklaration und äußere Kennzeichnung seitens der sich Versammelnden. Wenn jemandem nicht bewusst ist, dass er sich – juristisch gesehen – in einer Versammlung bewegt, aber sich entsprechend verhält, wie das bei den Fans vor dem Clubhaus sicher der Fall ist, dann ändert das nichts an der juristischen Tatsache, dass es sich um eine Versammlung handelt, auch wenn es da den einen oder anderen „Ausreißer“ gibt.


Am Schwarzen Donnerstag wollte die Landesregierung nicht anerkennen, dass es sich bei der Protestversammlung im Schlossgarten um eine V e r sammlung handelte, aber das Verwaltungsgericht stellte fünf Jahre danach fest, dass es sich um eine Versammlung im Sinne des Versammlungsrechts gehandelt hatte und nicht die Versammlung, sondern der Polizeieinsatz gegen sie rechtswidrig gewesen war.

Die für die öffentliche Ordnung und Sicherheit zuständige Behörde müsste und sollte eigentlich diese Tatsache auch ohne gerichtliche Hilfe erkennen und respektieren, denn mit ihr ändert sich die Rechtslage nicht unerheblich. Bei einer bloßen Ansammlung gilt das allgemeine Polizeirecht. Für eine Versammlung gilt jedoch das Versammlungsrecht, konkret der Paragraf 15 des Versammlungsgesetzes, und das Grundrecht steht als Verfassungsrecht über dem allgemeinen Polizeirecht, das zum einfachen Gesetzesrecht gehört. Das Versammlungsgesetz übt gegenüber dem Polizeirecht eine Sperrwirkung aus (s.u.).


Zur Vergewisserung über die Rechtslage zum Abschluss als Hinweis noch zwei Urteilszitate:

Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen richten sich … nach dem Versammlungsgesetz ... Seine im Vergleich zum allgemeinen Polizeirecht besonderen Voraussetzungen für beschränkende Maßnahmen sind Ausprägungen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit. Dementsprechend geht das Versammlungsgesetz als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizeirecht vor.“ (Bundesverfassungsgericht 1BvR 1726 Rn. 18)

Maßnahmen, die die Teilnahme an einer Versammlung beenden - wie ein Platzverweis oder eine Ingewahrsamnahme - sind rechtswidrig, solange nicht die Versammlung gemäß § 15 Abs. 3 VersG aufgelöst oder der Teilnehmer auf versammlungsrechtlicher Grundlage von der Versammlung ausgeschlossen wurde.“ (Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart (5 K 1265/14 Rn 38) vom 18.11.2015 zum „Schwarzen Donnerstag“.



Reinhart Vowinckel

Bad Cannstatt

19.11.2023

 


 

Dienstag, 14. März 2023

 

Letzte Generation: ‚Start up Direkter Demokratie‘? Zweite Erzählung 14.03.2023 Reinhart Vowinckel

Sicherheit ist die Voraussetzung von Freiheit und Freiheit ihr Zweck.



(1) Zum Gedenken des Sitzblockierers für den Frieden vor Mutlangen General Gert Bastian.


In meiner „Ersten Erzählung“ zu Sitzblockaden ging es um das Verhältnis des Nötigungsgesetzes § 240 StGB zur Verfassung und das Verhältnis des Verfassungsgerichts zu beiden. Das Nötigungsgesetz ist also verfassungswidrig. Auch der Bundesgerichtshof hatte bereits im Jahr 1952 in seiner Entscheidung zur Auslegung der Rechtswidrigkeitsformel in § 240 StGB festgestellt: „Hier fällt deshalb dem Richter die Aufgabe zu, an Stelle des Gesetzgebers durch unmittelbare Wertung zu entscheiden, ob die tatbestandsmäßige Nötigung im Einzelfalle rechtswidrig ist oder nicht.“ [GSSt 2/51 Rn 7].“

Außerdem hatten noch vor der Mutlangen-Entscheidung 28 Professoren des Strafrechts in einer Eingabe an das Bundesverfassungsgericht, in dessen Erstem Senat nicht ein einziger Strafrechtler saß, Bedenken gegenüber dem Nötigungsgesetz zum Ausdruck gebracht [Mutlangen-Urteil Rn 72].

Aber das hat alles nicht geholfen. Vier Senatsmitglieder, voran der Senatsvorsitzende haben sich auf den Standpunkt gestellt, sowohl das Nötigungsgesetz als auch seine Auslegung durch den Bundesgerichtshof im Jahr 1969 seien mit dem Gesetzlichkeitsgebot kompatibel.

Die vier ‚Mandatare’ der SPD allerdings waren offensichtlich doch bei ihrer Meinung geblieben, dass das Gesetz nicht kompatibel sei mit dem Gesetzlichkeitsgebot, denn in einer Entscheidung zur gleichen Sache ein Jahr später, im General-Bastian-Urteil zu dessen Teilnahme an einer Sitzblockade bei Mutlangen, heißt es: „Soweit die gegensätzliche Beurteilung von Sitzdemonstrationen durch das Bundesverfassungsgericht und durch die Strafgerichte Unklarheiten und Unsicherheiten ausgelöst hat, beruhen diese letztlich auf der vielfach kritisierten Fassung des § 240 StGB und können nur vom Gesetzgeber beseitigt werden.“ [BVerfGE 76/211 Rn 17] Auch bei dieser Entscheidung war der Senat wieder hälftig gespalten. Offensichtlich hatten Partei- und Machtpolitik über die Gebote der Gesetzlichkeit, der Rechtsfindung und der Neutralität gesiegt, und eines der Opfer der Verwirrung war Gert Bastian.

Damit war auch das Gesetzlichkeitsgebot, dessen Wahrung und Bewahrung eigentlich die Königsdisziplin des Verfassungsgerichts ist, sozusagen vom Thron gestoßen, um nicht zu sagen ruiniert worden. Zum zweiten Mal in deutscher Rechtsgeschichte, denn es war im Jahr 1935 schon einmal aufgehoben worden. Die Nationalsozialisten hatten statt des Gesetzgebers das „gesunde Volksempfinden“ auf den Thron gehoben. Davon scheinen jedoch alle acht Senatsmitglieder nichts gewusst zu haben, wohl weil diese Herkunft des Nötigungsgesetzes schon seit 1952 zum Tabu geworden war. Da hatte der Große Strafsenat drolliger Weise, aber mit Erfolg behauptet, das Vorbild für § 240 StGB im Jahr 1943 sei das Schweizer Nötigungsgesetz gewesen. [s. o.]

Diese peinliche Geschichte dürfte es überaus schwer werden lassen, das heutige Nötigungsgesetz endlich seiner rechtsstaatsgemäßen Bestimmung zuzuführen, nämlich seiner ‚Beerdigung‘, und das Gesetzlichkeitsgebot ‚wiederzubeleben‘. Zu viel Prestige hängt am Tabu, das verloren gehen könnte.

Aber unsere Minister der Justiz und des Inneren stehen vor einem historischen Dilemma, wenn sie ihre Staatsanwälte und Richter mit Hilfe des Nötigungsgesetzes gegen vermeintliche „Straftäter“ der Letzten Generation durchgreifen lassen wollen, ein Dilemma, für das sie nicht verantwortlich sind: Auf das Nötigungsgesetz können sie sich vor den Aktivisten schlechterdings nicht mehr berufen, wenn sie nicht weiterhin und nun bewusst verfassungswidrig handeln wollen. Aus dem Dilemma finden wir nur alle gemeinsam und kooperativ heraus. Da ist nun ein tiefes und gründliches Nachdenken über die Weiterentwicklung unseres Rechtsstaats seitens der Zivilgesellschaft und schließlich des Bundesgesetzgebers erforderlich. Endgültig Abhilfe schaffen muss schließlich er.




(2) ‚Gesundes Volksempfinden‘ und ‚unterlassene Hilfeleistung‘


Nun zu dem Bild, das Politiker in ihrem Verhältnis zur Letzten Generation bieten. Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul, bis zu seiner Karriere als Berufspolitiker für die CDU Gymnasiallehrer, grübelt laut rnd im Januar 2023 über das als unverständlich und äußerst bedrohlich empfundene Phänomen Letzte Generation: „Irgendwas machen wir in den Schulen falsch.“ Ein nachdenklicher Satz. Als ich ihn zum ersten Mal lese, gefällt mir zweierlei an ihm: Herbert Reul denkt über sich und über die Seinen nach. Wer tut das schon als Politiker, und das öffentlich? Es scheint, er sucht nach Fehlern auf seiner Seite. Auch ich bin überzeugt, dass wir an den Schulen und schon im Kindergarten bisher noch einiges falsch machen, was uns jetzt auf die Füße fällt.

Aber schon sein nächste Halbsatz geht dann doch genau in die andere Richtung: „Die haben das noch nicht verstanden, wie das mit dem Rechtsstaat funktioniert.“ Nicht Wir, sondern Die! Die verstehen den Rechtsstaat nicht, und deswegen packen sie alles falsch an. Aber ist er nicht selbst durch die selben Schulen gegangen, und er macht es trotzdem richtig? Könnten nicht auch er und die Seinen da etwas falsch machen? Vielleicht am Ende sogar genau das, was sie den Vertretern der Generation ihrer Kinder vorwerfen, die durch ihre Schulen gegangen sind, wenn er fortfährt; Wenn Menschen ihre eigene Meinung verabsolutieren und damit zu allen Möglichkeiten greifen, dann ist das Klima auf der Straße das Erste – und das Schießen nachher das Letzte.“ Geradezu literarisch. Die Kinder seiner Generation haben also in Schulen wie der seinen gelernt, ihre Meinung zu verabsolutieren und zu deren Durchsetzung „zu allen Möglichkeiten“ zu greifen, also auch zu Methoden wie Mord und Terror wie bei der RAF? Dagegen hilft dann nur noch „die volle Härte des Gesetzeswie Bundesjustizminister Marco Buschmann verkündet. Wenn er doch offensichtlich auch nicht weiß, wie das mit den Grundrechten wie zum Beispiel dem Versammlungsrecht funktioniert, weiß Reul dann selbst, „wie das mit dem Rechtsstaat funktioniert“? Wer ist es, der da seine Meinung verabsolutiert, oder seine Ängste? Wie sagte doch noch laut Bibel Jesus in seiner Bergpredigt:

Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! - und siehe, in deinem Auge steckt ein Balken!“ In der Psychoanalyse bezeichnet man einen solchen Vorstellungsfehler als „Projektion“, eine ‚Selbstbeglaubigung‘, nicht ganz unähnlich der Putins, der behauptet, er sei angegriffen worden.

Werfen wir also, bevor wir zu den Prinzipien des Versammlungsrechts kommen, zunächst einen ‚pointillistischen‘ Panorama-Blick auf Reus’ Milieu und dessen Projektionen:

Winfried Kretschmann (Grüne), der baden-württembergische Ministerpräsident, hält die Aktionen mit den Forderungen nach einem Tempo 100 auf Autobahnen oder für ein 9-Euro-Ticket für „grotesk“, also lächerlich: „Wir sind ja auch mal auf die Straße gegangen, und zwar gegen Atomkraft und Atomwaffen und nicht wegen untergeordneter politischer Fragen mit begrenztem Effekt aufs Klima.“ Seine Weihnachtsbotschaft: das Selbstverständnis der Letzten Generation sei „natürlich anmaßend“. Kein Wort zu den Grundrechten der Meinungs-, der Überzeugungs- und vor allem der Versammlungsfreiheit.

Als ich das zum ersten Mal lese, kommt mir eine Erinnerung an die Zeit, an die auch Kretschmann sich, auf seine Weise, erinnert: Ich gehe in den 1980er Jahren auch zu den Demonstrationen gegen die Nachrüstung mit Atomraketen wie Gert Bastian. Da fragt mich eines Tages eine Abiturientin: „Ja kann ich dann überhaupt noch Kinder haben, wenn uns ein Atomkrieg droht?“ Ich brauche vielleicht eine Sekunde, um zu antworten: „Aber ja! Ein Atomkrieg ist nicht unmöglich, aber unwahrscheinlich.“ Ich frage mich seit dem: Wie viel Zeit würde ich heute wohl brauchen, um eine Antwort zu finden? Unwahrscheinlich?

Ähnlich herablassend väterlich‘ Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD):Ich glaube, die Leute, die da im Stau stehen, verstehen nicht plötzlich die Ernsthaftigkeit des Anliegens, sondern ärgern sich nur von vorne bis hinten. Und deshalb glaube ich, das ist kein guter Einfall. Als wenn die Aktivisten kein ‚Frustverständnis‘ für von ihnen behinderte Autofahrer hätten. Staufrust‘ gegen ‚Klimakatastrophensorge‘. Kein Wort zur Verteidigung des Versammlungsrechts.

Einer seiner beiden Stellvertreter, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) steigt gegen die ‚Quertreiber‘, die unbequeme ‚Konkurrenz‘ in die Bütt‘: „Wer mit seinem Protest Gesundheit und Leben von anderen riskiert, büßt damit jede Legitimität ein und schadet auch der Klimabewegung selbst.“ Soll wohl heißen: „Besetzt! Besetzt! Wir sind die Klima-Ritter!“ Kein Gedanke an das Recht auf Unschuldsvermutung. Kein Wort zur Rechtslage, nach der Verkehrsregelung und Verkehrssicherung Sache der Polizei und nicht der Demonstranten sind. Auch von ihm kein Wort vom Versammlungsrecht.

Marion Gentges (CDU), Justizministerin im Kabinett Kretschmann, hält es mit ihrem Chef und geht schon einmal einen Schritt weiter: Die Klimaaktivisten nehmen eine überlegene Moral für sich in Anspruch und kommen doch über plumpe Straftaten nicht hinaus. Damit erweisen sie nicht nur dem Klimaschutz einen wirklichen Bärendienst , sondern beschädigen auch unsere Demokratie. Wer sich ihrer Moral nicht unterwirft, stellt sich damit über sie? Das kann natürlich nicht hingenommen werden! Aber ist es nicht gerade umgekehrt? Fühlt nicht vielmehr sie sich nicht nur politisch, sondern auch moralisch überlegen? Weiter heißt es: Verkehrsblockaden von Klimaaktivisten sind grundsätzlich geeignet, im beschleunigten Verfahren behandelt zu werden.“ Sie will, wie anscheinend die meisten ihrer Kollegen, den „kurzen Prozess“. So weist sie auch schon mal ‚ihre‘ Richter auf ihre Erwartungen und deren ‚Pflicht‘ hin. Wer verabsolutiert da seine Auffassungen und kennt als Justizministerin nicht einmal das rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsvermutung? Da könnte sie sich sogar bei Alice Weidel noch eine Scheibe abschneiden (s.u).

Ihr Parteigenosse und Kabinettskollege, der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobel steht da auch nicht zurück. Für ihn ist die „Motivation der meist jungen Straftäter … irrelevant“. Möglicherweise gehe es „dem einen oder dem anderen gar nicht um den Klimaschutz, sondern darum, Straftaten zu begehen.“ Straftaten als Spaß und Selbstzweck! Darauf muss man erst mal kommen.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) setzt auf eine über Bayern hinausgehende und Deutschland vereinende gesetzliche Erlaubnis zum „Präventivgewahrsam“ für Wiederholungstäter, eine Wortschöpfung mit Chancen auf die Anerkennung als „Unwort des Jahres“. Man könnte da auch - verständlicher - von Freiheitsberaubung sprechen.

Ähnlich wie Herbert Reul hält auch FDP Parteichef Christian Lindner die Gruppe Letzte Generation für brandgefährlich“, denn sie verfolge ein „autoritäres Gesellschaftsmodell“. Sie sehe sich als eine Gruppe von Eingeweihten“ , die einer Mehrheit sagen wolle, was gut und richtig ist.

Sogar AfD-Fraktions- und Parteichefin Alice Weidel reagiert da zurückhaltender: „Auch wenn man mit persönlichen Schuldzuweisungen vorsichtig sein muss, so ist es nun endgültig an der Zeit, dass sich die ,grünen Straßenkämpfer‘ hinterfragen.“, während AfD-Co-Fraktionschef Ulrich Siegmund in den Aktivisten, ähnlich wie Marion Gentges und Thomas Strobel, schlicht Extremisten und Verbrechersieht.

Der CSU-Landesgruppenchef im Bundestag Alexander Dobrindt überbietet alle. Er erklärt in Bild am Sonntag: „Klima-Protest darf kein Freibrief für Straftaten sein … Es braucht deutlich härtere Strafen für Klima-Chaoten, um einer weiteren Radikalisierung in Teilen dieser Klimabewegung entgegenzuwirken und Nachahmer abzuschrecken … Die Entstehung einer Klima-RAF muss verhindert werden." Sein Parteichef Markus Söder pflichtet ihm bei.

Allein Die Linke bleibt außerhalb der hier skizzierten ‚Großen Koalition‘ der (partei)politischen Gegner der Gruppe. „Ich finde auch nicht jede Aktion gut, aber ich muss doch anerkennen, dass die Aktionsformen bisher immer gewaltfrei waren.“ sagt ihr Parteivorsitzender Martin Schirdewan geradezu flehentlich, verteidigt so jedoch als einziger der Zitierten wenigstens im Ansatz das Versammlungsrecht.







(3) Rufer in der Wüste


Ein Senior der FDP, der Altliberale Gerhart Baum, zur Zeit der RAF zeitweilig Bundesinnenminister und deswegen Kenner der historischen Materie, bezeichnet Dobrindts RAF-Menetekel als „dummes Zeug“, und Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesverfassungsschutzes, bezeichnet es ähnlich als „Nonsens“. Sein Argument:Anders kann man eigentlich gar nicht ausdrücken, wie sehr man dieses System respektiert, wenn man eben die Funktionsträger zum Handeln auffordert. Ich erkenne jedenfalls gegenwärtig nicht, dass sich diese Gruppierung gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung richtet, und insofern ist das kein Beobachtungsobjekt für den Verfassungsschutz.“

Herbert Reul und Christian Lindtner sehen es jedoch ähnlich wie Dobrindt und Söder. Was Dobrindt sagt, ist zwar ‚Stammtisch beim fünften Bier‘, andererseits aber auch die ‚Bugwelle des Shitstorms‘, die im vergangenen Herbst nicht nur über die Letzte Generation, sondern über die ganze Republik hereingebrochen ist und in der zu viele unserer Politiker einfach mitgeschwommen sind.

Der Sozialphilosoph Robin Celikates warnt in einem Aufsatz zur Klimaschutz-Bewegung: „Die aus politischem Kalkül betriebene Delegitimierung und Kriminalisierung von Protest ist eine viel größere Gefahr für die Demokratie als die Straßenblockaden der Letzten Generation oder die Proteste in Lützerath. [Blätter für deutsche und internationale Politik 2/23, S. 104] Damit kommt er auf den Punkt. Hinter der von konservativer Seite betriebenen Kampagne steckt mehr als bloße Aufregung oder gar Dummheit. Angesichts der aktuellen Hetzkampagne stellt sich vielmehr die Frage: Wie ist es möglich, dass sich in ihr niemand an das Gesetz gegen Volksverhetzung erinnert? In § 130 StGB heißt es – verkürzt und konzentriert zitiert:

Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, 1. ... gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen dessen Zugehörigkeit zu … einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder 2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen dessen Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird …bestraft“. Was fehlt noch zur Erfüllung des Straftatbestandes der Volksverhetzung?

Wir dürfen nicht kapitulieren vor denen, die, wenn es ihnen drauf ankommt, auch mit Desinformationen das Volk gegen seine eigenen Rechte aufbringen, die sie für übertrieben halten.



(4) Was in unseren Schulen auch nicht ‚dran‘ ist.


Die Brokdorf-Botschaft des Verfassungsgerichts zum Versammlungsrecht in Zitaten



(1)„Als Abwehrrecht ... gewährleistet Art. 8 GG den Grundrechtsträgern das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art. und Inhalt der Veranstaltung und untersagt zugleich staatlichen Zwang, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fernzubleiben. Schon in diesem Sinne gebührt dem Grundrecht in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang; das Recht, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln, galt seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewussten Bürgers. In ihrer Geltung für politische Veranstaltungen verkörpert die Freiheitsgarantie aber zugleich eine Grundentscheidung, die in ihrer Bedeutung über den Schutz gegen staatliche Eingriffe in die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung hinausreicht. “(BVerfGE 69/315 Rn 62)


(2)„Indem der Demonstrant seine Meinung in physischer Präsenz, in voller Öffentlichkeit und ohne Zwischenschaltung von Medien kundgibt, entfaltet auch er seine Persönlichkeit in unmittelbarer Weise. In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen, wobei die Teilnehmer einerseits beträchtliche Einflüsse in der Gemeinschaft mit anderen eine Vergewisserung dieser Überzeugungen erfahren und andererseits nach außen - schon durch die bloße Anwesenheit, die Art. des Auftretens und des Umganges miteinander oder die Wahl des Ortes - im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen (Rn 64).“


(3)„Große Verbände, finanzstarke Geldgeber oder Massenmedien können beträchtliche Einflüsse ausüben, während sich der Staatsbürger eher als ohnmächtig erlebt. In einer Gesellschaft, in welcher der direkte Zugang zu den Medien und die Chance, sich durch sie zu äußern, auf wenige beschränkt ist, verbleibt dem Einzelnen neben seiner organisierten Mitwirkung in Parteien und Verbänden im allgemeinen nur eine kollektive Einflussnahme durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit für Demonstrationen. Die ungehinderte Ausübung des Freiheitsrechts wirkt nicht nur dem Bewusstsein politischer Ohnmacht und gefährlichen Tendenzen zur Staatsverdrossenheit entgegen. Sie liegt letztlich auch deshalb im wohlverstandenen Gemeinwohlinteresse, weil sich im Kräfteparallelogramm der politischen Willensbildung im allgemeinen erst dann eine relativ richtige Resultante herausbilden kann, wenn alle Vektoren einigermaßen kräftig entwickelt sind. (Rn 66)


(4)"«[Versammlungen] bieten ... die Möglichkeit zur öffentlichen Einflußnahme auf den politischen Prozeß, zur Entwicklung pluralistischer Initiativen und Alternativen oder auch zu Kritik und Protest ...; sie enthalten ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren».“ (Rn 67)


(5)„Bei allen begrenzenden Regelungen hat der Gesetzgeber die erörterte, in Art. 8 GG verkörperte verfassungsrechtliche Grundentscheidung zu beachten; er darf die Ausübung der Versammlungsfreiheit nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit begrenzen.“ (Rn 70)


(6) Eine Notwendigkeit zu freiheitsbeschränkenden Eingriffen kann sich im Bereich der Versammlungsfreiheit daraus ergeben, daß der Demonstrant bei deren Ausübung Rechtspositionen Dritter beeinträchtigt. Auch bei solchen Eingriffen haben die staatlichen Organe die grundrechtsbeschränkenden Gesetze stets im Lichte der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat auszulegen und sich bei ihren Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist. (Rn 71)


(7)„Danach umfaßt der Begriff der «öffentlichen Sicherheit» den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen, wobei in der Regel eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit angenommen wird, wenn eine strafbare Verletzung dieser Schutzgüter droht (Rn 78) während eine bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung im allgemeinen nicht genügen wird (Rn 79).“


(5) Zusammenfassung der Grundsätze


1. Das Versammlungsrecht ist im freiheitlichen demokratischen Staat ein Recht von besonderer, grundlegender Bedeutung. Als Ausdruck der Volkssouveränität reicht es über den Schutz gegen staatliche Eingriffe in die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung hinaus und berechtigt auch beziehungsweise fordert geradezu auf zur aktiven kollektiven Teilnahme am politischen und damit gesellschaftlichen Prozess und hilft so in einer Art von Ideenauslese (trial an error, Versuch – Irrtum - Versuch), Fehlentwicklungen zu vermeiden.


2. Versammlungen sind gelebte Volkssouveränität und ein Element direkter Demokratie. Das verleiht Demonstranten gegenüber, die Verantwortung für das Allgemeininteresse und für die Interessen von Minderheiten übernehmen, ein Privileg gegenüber Dritten und - eine eigene Würde.


3. Das Versammlungsrecht hat wie zum Beispiel das Notwehrrecht nach § 32 StGB oder das Selbsthilferecht nach § 229 BGB im Verhältnis zur Nötigung mittels einfacher punktueller Gewalt die Funktion einer gestattenden Gegennorm.


4. Der Staat darf ohne zwingenden Grund wie den einer Gefährdung von Rechtsgütern, die dem Versammlungsrecht in ihrer Bedeutung gleichkommen, keinen Zwang ausüben, einer Versammlung fernzubleiben wie etwa in der Form des geplanten sogenannten „Unterbindungsgewahrsams. [s. o. u. (1)]

5. Dem Versammlungsrecht gleichrangig sind nur Gefährdungen von Rechtsgütern wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen, zusammengefasst in der Formel „Öffentliche Sicherheit“, wobei es auf die jeweils abzuwägende Verhältnismäßigkeit ankommt.



(6)Staatsbürgerkunde: Sicherheit ist die Voraussetzung von Freiheit und Freiheit ihr Zweck


Ein konstruktiver Effekt der Wahrnehmung des Versammlungsrechts ist die Erziehung zur Friedlichkeit: Argumente statt Gewalt. Demokratie geht friedlich, Diktatur nur mit Gewalt. Selbst wenn Demonstranten den Staat loswerden wollen, weil sie noch gar nicht begriffen haben, dass unsere Freiheit erst durch die von ihm gewährleistete Sicherheit entsteht, so ist es doch zunächst einmal gut, dass sie das auch nach außen zeigen, vorausgesetzt, sie drohen nicht mit Gewalt und werden auch selbst nicht gewalttätig. Dann können wir uns mit ihnen auseinandersetzen. So schützen Versammlungen vorbeugend als ‚Überdruckventil’ für das Gefühl oder die Tatsache de ‚Nicht Gehört Werdens‘ auch das Gewaltmonopol des Staates. Solange jemand Macht ehrlich mit Argumenten, also mittels menschlicher Vernunft zu erlangen sucht und gehört wird, solange greift er auch nicht zu roher Gewalt.

In diesem Sinne sollten die Staatsgewalten vor jedem Eingriff in die Versammlungsfreiheit bedenken, was die Gefahr einer Radikalisierung mehr begünstigt: Verbot und Strafgewalt oder Freiheit. Diese Überlegung sollten unsere Politiker auch ihren Wählern vermitteln, die sich durch kommunikativ motivierte Verkehrsblockaden nur belästigt fühlen, weil sie die Bedeutung des Versammlungsrechts für die Sicherung ihrer Freiheit auf Grund versäumter Schulbildung nicht kennen. So könnten sie die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne ihrer Zukunft wirklich verteidigen.

In meiner nächsten Erzählung wird es auch um das Versammlungsrecht gehen, jedoch nicht nur um die Freiheit, sondern vor allem um deren Beschränkungen. Zum einen durch das Friedlichkeitsgebot nach Art. 8, 1 GG, das Gewalttätigkeit oder Bedrohlichkeit durch Versammlungen und „Umzüge“, vom Schutz durch das Versammlungsrecht ausschließt, zum anderen um das Bundesversammlungsgesetz nach Art. 8,2 GG, dessen Bestimmung es ist, den kooperativen Umgang der Ordnungsbehörden und sich Versammelnder miteinander im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgebotes zu organisieren.